Sehen. Erkennen. Verstehen.
Zuerst ein Wort zu Verschwörungstheorien. Aus meiner Sicht ist eine Verschwörungstheorie, wenn auf Basis von Vermutungen und Halbwissen Zusammenhänge konstruiert werden, wo eigentlich keine sind. Mitunter werden aus indirekten kausalen Zusammenhängen, direkte gemacht (Beispiel: Der Mann, der mir aus Versehen die Vorfahrt genommen hat, hat das im Auftrag einer geheimen Organisation gemacht…). Soweit zur Begrifflichkeit.
Meines Erachtens nach werden Verschwörungstheoretiker von drei Hauptaspekten angetrieben:
- Angst vor komplexen Bedrohungen
- Ausgleich von subjektiv empfundener Minderwertigkeit
- Erleben von Selbstwirksamkeit
Zu Punkt 1:
Die meisten Menschen erleben heutzutage komplexe Bedrohungen. Da gibt es die Veränderung der Umwelt, Gefahr von Krieg, wirtschaftliche Unsicherheit, schnell wechselnde Anforderungen im Beruf und vieles mehr. Häufig erzeugen diese Bedrohungen ein Gefühl der Ohnmacht und Hilflosigkeit. Man fühlt sich ausgeliefert. Indem man diesen komplexen Bedrohungen eine vereinfachende Struktur verleiht, werden sie handhabbar. Durch die Annahme eines kausalen Zusammenhangs zwischen der Situation und einem bösen Gegner kann man einerseits jegliche Verantwortung für die Situation von sich weisen und gleichzeitig ein Feindbild kreieren, dass einen Gruppenzusammenhalt unterstützt. Die Basis dieses Mechanismus‘ ist das Gefühl von Angst und Hilflosigkeit.
Zu Punkt 2:
Viele Menschen haben erniedrigende Erfahrungen gemacht. Die einen kommen leichter darüber hinweg, andere schleppen die Folgen der Erfahrungen jahrelang mit sich. Gerade die Erfahrung nicht um seiner selbst Willen geliebt zu werden, ist oft verletzend und demütigend. Durch das verschwörungstheoretische „Spezial“Wissen erhöht man sich selbst und teilt dem anderen im Grunde mit: „Ich weiß etwas, das Du nicht weißt. Und ich kann es Dir mitteilen, wenn Du mir zuhörst.“ Durch diese Erhöhung und diese Sonderrolle wird eine Minderwertigkeit ausgeglichen. Es ist wie eine Art Gegenbewegung, wie bei einem Pendel.
Zu Punkt 3:
Bei kleinen Kindern kann man in einem gewissen Alter beobachten, wie sie mit völliger Begeisterung ihre Spielsachen vom Tisch werfen, damit Mama diese gleich wieder aufhebt. Nur damit sie sie gleich wieder runterwerfen können. Kinder erleben, dass sie ihre Umwelt beeinflussen können und dass es so etwas wie Ursache und Wirkung gibt. Das ist bei uns Erwachsenen nicht anders, nur begnügen wir uns nicht mit Spielsachen, sondern verlagern das Feld auf unser Verhalten. Wenn wir uns auf ein Feindbild konzentrieren, können wir durch Beschweren, Meckern und Protest die eigene Wirksamkeit erleben. Dieser befriedigte Gestaltungswille wird als positiv empfunden.
Alle drei Punkte können individuell unterschiedlich gewichtet sein. Doch treiben sie meines Erachtens nach das Festhalten an einer Verschwörungstheorie an. Wir haben es mit einem emotionalen Bedürfnis zu tun. Das bedeutet, dass der Hintergrund von Verschwörungstheorien ein emotionales bzw. psychologisches Problem ist, kein sachliches. Eine Argumentation erübrigt sich und ist nicht zielführend, da die Verschwörungstheorie beliebig erweitert wird und nicht korrigierbar ist (Beispiel: Wenn ein Argument durch schriftliche Belege widerlegt wird, ist es die „Lügenpresse“) .
Was man tun kann: Trennen Sie zwischen dem Menschen an sich und dem, was er sagt, tut und denkt. Diese getrennte Sichtweise ermöglicht einen wertschätzenden Umgang miteinander. Sie können, das was er sagt ablehnen, begegnen ihm aber dennoch wertschätzend. Genau das ist der Weg, eine weitere Abgrenzung und den weiteren Aufbau von Feindbildern zu verhindern. Freundlichkeit und Wertschätzung halten die Verbindung sauber. Gleichzeitig kann man den Kontakt vermeiden, sobald die Verschwörungen zum Thema werden und den Kontakt pflegen, solange sie es nicht sind.