Sehen. Erkennen. Verstehen.
Ich verwende diesen Begriff mittlerweile gerne: postfaktisches Zeitalter. In aller Kürze bedeutet das nichts anderes als: Die Fakten werden dem Weltbild angepasst und nicht, wie es spätestens seit der Aufklärung war, anders herum. Wir leben in diesem postfaktischen Zeitalter. Glauben Sie nicht? Dann blättern Sie mal wahllos durch einige Ratgeber und Sie werden vermutlich in einigen entdecken, dass eine Studie herausgefunden hat, dass unser Wortinhalt nur 7% des Verständnisses ausmacht oder dass das Gehirn zwischen Vorstellung und Realität nicht unterscheiden kann oder dass Frauen ein doppelt so großes Kommunikationszentrum haben wie Männer und… und… und…
Jedes dieser Beispiele ist sehr fragwürdig, wenn nicht gar falsch. Die Beugung der Fakten passte einfach so schön ins Weltbild – genau das meine ich mit postfaktisch. Als ich einen Bekannten, dessen Buch ich las, darauf ansprach, entgegnete er: „Du bist so verkopft, ich verlass mich da voll auf meine Intuition, Du…“ Sprach’s und wendete sich mit einem Blick ab, den ich nur von Leuten kenne, die einen Joint zuviel durchgezogen haben. Ich liebe Intuition, nur unterscheide ich gerne zwischen Intuition und kognitiver Verzerrung (Heuristik). Wenn man mit der Intuition richtig liegt, widerspricht sie dem Verstand keineswegs. Nur reagiere ich allergisch, wenn jemand seine Intuition als Ausrede missbraucht, um nicht nachdenken zu müssen, bzw. nicht genauer recherchieren zu müssen (und ich meine nicht gelegentliche Unsauberkeiten in der Recherche, das passiert allen).
Zurück zu unseren Beispielen. Die 7% stammen aus einer Studie von Mehrabian aus dem letzten Jahrhundert. Sie wurde viel zitiert und meistens falsch. Denn Mehrabian befasste sich in der besagten Studie nur mit der Kommunikation die Gefühle betreffend. Hier nachzulesen
Dass unser Gehirn nicht zwischen Vorstellung und Realität unterscheiden kann, ist ausgemachter Blödsinn. Es mag Effekte geben, die bei Vorstellung und Realität nahezu identisch ablaufen, aber das bedeutet nicht, dass unsere Gehirne nicht unterscheiden können, denn sonst wären wir ein dringender Fall für die Psychiatrie.
Die Sache mit dem doppelt so großen Kommunikationszentrum stimmt deshalb nicht, weil es nicht ein Kommunikationszentrum gibt. An der Kommunikation sind viele Teile des Gehirns beteiligt. Es mag anatomisch geschlechtliche Unterschiede geben, das übersteigt mein Wissen. Doch ein doppelt so großes Sprachzentrum im Gehirn? Ernsthaft? Wer hier tiefer einsteigen möchte, lese die Bücher von Gerhard Roth, Steven Pinker (besonders „The language instinct“) und in einigen Aspekten auch Dan Ariely.
Ich habe einige Male solche Fehler gemacht und es hat mich sehr geärgert. Denn, wenn ich so einen Fehler mache und etwas publiziere, dann lesen es Menschen, die sich darauf verlassen, dass es stimmt. Sie handeln danach. Daher sollte man sorgfältig arbeiten und entsprechend die Studien bemühen, um die These zu untermauern (oder halt zu widerlegen). Das nennt sich wissenschaftliches Arbeiten. Das Weltbild muss sich den Fakten anpassen, nicht umgekehrt. Wenn dann noch echte Intuition hinzukommt, dann können die Ergebnisse wahrhaft bahnbrechend und erleuchtend sein. Daher mein Appell: Treten wir dem postfaktischen Zeitalter entschlossen entgegen. Setzen wir Herz UND Verstand ein! Das eine ist nichts ohne das andere. Wie ein buddhistischer Lama einmal sagte: Mitgefühl ohne Weisheit ist naiv und Weisheit ohne Mitgefühl ist kalt. Wir brauchen beides.