Sehen. Erkennen. Verstehen.
In letzter Zeit höre ich oft Verschwörungstheorien. Beispielsweise: Es gebe einen Masterplan, der dafür sorgen soll, dass Europa gezielt durch Flüchtlings Zuwanderung aufgelöst werden soll. Oder auch sehr beliebt: Die Presse betreibt gezielte, gelenkte Verschleierung und Fehlinformation, um uns unwissend und dumm zu halten. Warum sind Verschwörungstheorien so beliebt?
Zuerst einmal existieren Ereignisse, die das sichere Weltbild und die eigene Wirkmächtigkeit in Frage stellen. Bedrohliche Ereignisse sorgen für eine Art Ohnmachtsgefühl. Diese Art Ohnmacht kann man unterschiedlich beantworten: Z.B. durch die Flucht in Religion oder auch durch die Annahme eines Kausalzusammenhangs. Alles wird bewusst gelenkt von einer unbekannten Gruppe, von der wir nichts wissen. Der Vorteil so einer Annahme ist, dass plötzlich die Unvorhersehbarkeit einem einzuschätzenden Ursache-Wirkung-Geflecht weicht. Dazu werden verschiedene Annahmen gemacht. Gemeinsam haben fast alle Verschwörungstheorien, dass sie aus indirekten Kausalketten direkte machen. Dazu ein Wort der Erklärung:
In der Philosophie unterscheidet man mitunter zwischen „wayward causal chains“ und „unwayward causal chains“ – direkte und indirekte Kausalketten. Wenn ich beispielsweise einen Basketball in einen Korb werfe, dieser die Nachbarskatze erschreckt, welche daraufhin einen Blumentopf umkippt, der aus dem Fenster fällt und den alten Herrn auf den Kopf trifft, der just in diesem Moment unter dem Fenster entlang geht, dann ist es eine indirekte Kausalkette. Der Verschwörungstheoretiker nimmt nun an, dass dies alles bewusst und mit Absicht geschah. Ich werde zu einem bösen Genius verklärt, der alles ganz genau vorher berechnet hat und dann in die Tat umgesetzt hat.
Der Vorteile so einer Umdeutung ist, dass die Welt zwar immer noch bedrohlich ist (an den Ereignissen hat sich ja nichts geändert), aber nicht mehr unberechenbar. Die Annahme eines nachvollziehbaren Kausalzusammenhangs stellt eine potentielle Wirkmächtigkeit her – man könnte etwas tun und ist nicht mehr auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.
Soweit, so gut, doch warum ist der Glaube an Verschwörungen nur schwer korrigierbar? Das lässt sich erklären mit der reflexiven Schleife (Argyris Ladder). Aus den Daten, die man beobachtet, werden einzelne ausgewählt. Man trifft Annahmen über sie und kommt zu Schlussfolgerungen. Daraus werden Überzeugungen. Dies Überzeugungen sorgen dafür, dass wir nur bestimmte Daten zur Wahrnehmung aus dem ganzen Pool auswählen. Aus den Überzeugungen entspringen Handlungen. Es handelt sich hier um eine stabile Schleife, die das eigene Erleben festigt.
Abb.: Reflexive Schleife nach C. Argyris
Korrigierbar wäre der Glaube an Verschwörungen, wenn die Verschwörungstheoretiker ihre Annahmen hinterfragen würden. Die Grundannahme, dass man sich immer irren kann, ist elementar für eine kritische Auseinandersetzung mit den eigenen Überzeugungen. Dies setzt eine geistige Flexibilität voraus, die heutzutage nicht selbstverständlich ist. Wenn man die Verschwörungstheoretiker angreift und sie ihr Gesicht verlieren, ist nichts gewonnen. Mein Tipp zum Umgang: Freundlich sein. Ich antworte meist damit, dass es eine spannende Sichtweise ist, ich das aber für mich überprüfen müsse. Und ich betone, dass es klasse ist, dass wir unterschiedliche Sichtweisen haben und dennoch zusammen einen Kaffee trinken können.
Hinter jeder Überzeugung und Position steckt ein Bedürfnis, das erfüllt werden möchte. Wenn wir uns dessen bewusst sind, können wir mit Mitgefühl und auf Augenhöhe mit den Verschwörungstheoretikern umgehen. Und vielleicht haben sie ja sogar einmal Recht…
Der Persönlichkeitsscout