Moralische Grundsätze sind wie eine zu kleine Bettdecke: Egal wie wir ziehen und zerren, sie ist immer zu kurz. Jedes Mal, wenn wir glauben, eine moralische Regel gefunden zu haben, findet sich eine Ausnahme, für die sie nicht gilt. Ich verstehe moralische Grundsätze als eine tendenzielle Richtungsvorgabe. Absolutes Befolgen dieser Regeln halte ich für genauso schwierig, wie gar keinen Richtlinien zu folgen.

 

Insofern möchte ich meinen hier beschriebenen Ansatz als eine Orientierungshilfe verstanden wissen, die einem ein einfaches Koordinatensystem gibt, mit dessen Hilfe man in unterschiedlichen Situationen navigieren kann. In der Ethik gibt es unterschiedliche Ansätze, mit Lügen umzugehen. Die einen vertreten die harte Linie, die besagt, jegliches Lügen sei verwerflich. Andere Richtungen, wie beispielsweise der Utilitarismus, relativieren diese Position. Und Machiavelli hätte wiederum vermutlich nichts weiter gegen Lügen einzuwenden. Für mich ist jedoch entscheidend,  eine Art moralischen Kompass zu entwickeln, damit wir uns im Zweifelsfall orientieren können. Dabei geht es nicht nur um das Lügen selbst, sondern gerade auch um den Umgang mit Lügnern.

 

Sie kennen die Geschichte mit dem Sündenfall? Adam und Eva naschten vom Baum der Erkenntnis und schon war es vorbei mit dem angenehmen Leben. So ähnlich ist es auch mit der Kenntnis von Lüge und Täuschung. Wir befinden uns in einem Dilemma. Nicht jede Lüge, die man erkennt, sollte man auch kommentieren.

Wenn wir lernen, Lügen zu erkennen, sollten wir auch lernen, mit dieser Fähigkeit umzugehen. Tatsächlich gibt es hier ein paar Aspekte, die man im Hinterkopf behalten sollte. Angenommen man wird belogen und erkennt es, dann sollte man sich meiner Ansicht nach fragen:

  1. Wird eine Verhaltensintervention unsererseits unsere Situation verbessern?
  2. Wird eine Verhaltensintervention unsererseits eine positive Entwicklung auf Seiten des Lügners anstoßen?
  3. Welche Motivation treibt den Lügner an? Was sind seine Absichten?
  4. Könnte eine Intervention eine Entwicklung zum Negativen verursachen?

 

Punkt 1 setzt ein wenig Deduktion voraus. Man muss einschätzen können, inwieweit eine Intervention nicht nur unmittelbar, sondern auch längerfristig unsere Situation verändern, verbessern kann. Beispielsweise mag es sein, dass eine Intervention kurzfristig nichts bewirkt: Wir stellen den Lügner zur Rede, doch es ändert nichts an unserer Situation. Dennoch kann unser Verhalten einen langfristig positiven Effekt haben, denn wir stehen für uns und unsere Werte ein. Aus Sicht der Psychohygiene kann das durchaus sinnvoll sein. Und selbst wenn das nicht der Fall sein sollte, könnte unser Verhalten anderen als Vorbild dienen.

 

Für Punkt 2 ist eine gewisse Menschenkenntnis erforderlich, die über unsere Alltagserfahrung hinausgeht. Wir müssen das Verhalten, die Persönlichkeit und die Entwicklungsbereitschaft unseres Gegenübers einschätzen können. Das ist nur ansatzweise möglich und setzt ein differenziertes Modell des Menschen voraus. In der Regel müssen wir uns also auf unsere Erfahrung verlassen und schätzen.

 

Punkt 3 ist der wirklich interessante Punkt. Er bestimmt, wie ich dem Menschen begegne, der mir gerade Unsinn erzählt. Ist seine Motivation meiner Einschätzung nach positiv, so werde ich ihn – unabhängig davon, dass er mich belogen hat – mit Würde und Respekt behandeln.

 

Punkt 4 verdeutlicht, dass wir auch die langfristigen Folgen vor Augen haben sollten. Mitunter macht es keinen Sinn, jede Schlacht zu schlagen. Das Beispiel mit Peter zeigt zwei Aspekte auf: Es scheint bei der moralischen Einordnung unserer Handlungen einerseits um die Verbindung zwischen einem selbst und den anderen zu gehen und andererseits um den kurzfristigen und langfristigen Nutzen.

Abbildung : Der moralische Kompass

 

Ich persönlich verfolge dabei eher einen perspektivischen Ansatz. Das bedeutet, ich rechne nicht den einen Nutzen gegen den anderen auf, sondern es geht mir um ein Gleichgewicht in den Blickwinkeln. Der moralische Kompass ist damit ein Werkzeug, um verschiedene Perspektiven bei der Bewertung der Handlungsoptionen in Balance zu bringen.

 

Bereits kleine Verfehlungen können eine Signalwirkung haben und eine Lawine von weiteren Regelverstößen nach sich ziehen. Aus diesem Grund gilt für mich die Grundtendenz, dass Täuschungen generell eher zu vermeiden sind. Soziale Lügen (Lügen, die ungeachtet des eigenen Vor- oder Nachteils dem Wohl anderer dienen) fungieren dabei als eine Art Pufferzone, die ein Sozialgefüge zusammenhält.

 

Die Haltbarkeit bzw. Stabilität des sozialen Gefüges ist ein wichtiger Aspekt bei der Beurteilung von Handlungen. Das betrifft nützliche Handlungen genauso wie schädliche. Wenn der Präsident eines Fußballvereins Millionen an Steuern hinterzieht und mit einer vergleichsweise geringen Strafe davonkommt, hat das eine Signalwirkung. Fußballfans, die sich mit dem Verein und mit ihrem Präsidenten identifizieren, werden in der Regel fortan weniger Probleme damit haben, Steuern zu hinterziehen. Oder aber sie tun es aus Rache, weil ihr Gerechtigkeitsempfinden verletzt wurde.

 

Im Positiven funktioniert es genauso. André war ein Teamleiter in einer Agentur. Er war ein Perfektionist und recht streng, dennoch war er, soweit mir das bekannt ist, immer fair. Ich habe nie erlebt, dass er sich im Ton vergriffen hätte. Diese Art der Selbstbeherrschung hatte eine Signalwirkung. Die Umgangsweise in seinem Team hatte meiner Ansicht nach ein hohes moralisches Niveau. Jeder bemühte sich, sich ähnlich fair zu verhalten. Es gab mit Sicherheit Tage, an denen André einige Mitarbeiter gerne „an die Wand geklatscht“ hätte, aber er beherrschte sich. Langfristig war das für alle Beteiligten nützlich, denn die Performance stieg und die Stimmung war gut.

 

Auch wenn die langfristigen Folgen die gewichtigeren sind, man sollte stets bemüht sein, alle Perspektiven zu bedenken. Das ist mit Balance der Perspektiven gemeint.

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